250. Geburtstag von Novalis

Ist denn das Weltall nicht in uns?

Von Peter Stephan Jungk
am 01.05.2022

Novalis im Porträt von Franz Gareis, um 1799

Als Schüler war unser Autor so begeistert von Novalis, dass er 1972 an dessen Grab in der damaligen DDR reiste. Es wurde eine sonderbare Erfahrung. Eine Erinnerung zum 250. Geburtstag des Schriftstellers.

Als Sechzehn-, Siebzehn­jähriger, zur Zeit meiner ersten schriftstellerischen Versuche, entdeckte ich das schmale Gesamtwerk Georg Philipp Friedrich von Hardenbergs, der sich als romantischer Dichter das Pseudonym Novalis zugelegt hat: der Neuland Bestellende. Ich hatte den Namen an der Berliner Rudolf Steiner Schule zum ersten Mal gehört und mich mit dem so absolut Fremden augenblicklich identifiziert. Fremder kaum denkbar: Im späten achtzehnten Jahrhundert in einer protestantischen thüringischen Adelsfamilie aufgewachsen als eines von elf Kindern, von meiner jüdischen amerikanisch-österreichischen Einzelkind-Identität gleichsam Lichtjahre weit entfernt. Ich wurde zu seinem schwärmerischen Jünger, las nach und nach jede Zeile seiner „Hymnen an die Nacht“, der Gedichte, seiner umfangreichen Fragmentesammlung, seines Romanbruchstücks „Heinrich von Ofterdingen“. Der junge Dichter Heinrich, der sich auf die Suche nach der blauen Blume macht, die er in einem Traum zu sehen bekam: „Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken.“
Novalis’ blaue Blume wurde zu meinem Leitstern, einem Sinnbild der Sehnsucht nach einer durch und durch poetischen Welt. Mehr noch, ich begann, mich Friedrich von Hardenberg seelenverwandt zu fühlen, glaubte in seinem Werk eine ekstatische Stimme zu vernehmen, inniger mit mir verknüpft als alles, was ich bis dahin gelernt, gelesen, erfahren hatte. Eine Art Überschwang des Jugendlichen, der ich damals war, dem die Idee in den Sinn kam, womöglich die Reinkarnation des mit neunundzwanzig Jahren verstorbenen Dichters zu sein. Ich be­lächelte mich selbst und hielt meine heimliche Überlegung zugleich für nicht ganz unrealistisch. Sie wird wohl nicht zuletzt vom Gedankengut der Anthro­posophie mitbestimmt gewesen sein, die uns Waldorfschülern auf den Lebensweg mit­gegeben worden war.


Die Ansichten der Kreisleitung zum 1. Mai


Ein milder Wahn, der in dem Entschluss gipfelte, anlässlich des zweihundertsten Geburtstages meines Idols, am 2. Mai 1972, dieser Tage vor fünfzig Jahren, nach Weißenfels an der Saale zu reisen, in das Städtchen, in dem Novalis die längste Zeit seines kurzen Lebens verbracht hatte und in dem er 1801 begraben wurde. Ich freute mich, im Vorfeld, auf Begegnungen mit Verehrern des Dichters aus aller Welt, die zu diesem Datum die Reise in die Deutsche Demokratische Republik nicht scheuen würden. Bald nach meiner Ankunft im einzigen Hotel der Stadt, dem „Goldenen Ring“, musste ich jedoch erkennen, der einzige Aus­länder zu sein, der sich auf den weiten Weg gemacht hatte.

Eine Büste von Novalis schmückt sein Grab in Weißenfels. Hierher pilgerte Peter Stephan Jungk als Zwanzigjähriger

Vor dem Fenster des schäbigen Hotelzimmers knarrte eine große rote Fahne in ihrer Halterung. Auf schmutziggrauen Plätzen, in engen trostlosen Gassen, an den Feuermauern baufälliger Häuser las ich: „Was der VIII. Parteitag der SED beschloss – wird sein!“ In rußschwarzen Hinterhöfen spielten Kinder zwischen übervollen Abfalleimern. In der staubigen Auslage eines vereinzelten Lebensmittelladens stapelten sich Fleisch- und Gemüsekonserven. Alltag in einer In­dustriestadt am Rand des Thüringer Waldes, unweit von Leipzig, die sich dank des hier ansässigen VEB „Banner des Friedens“, der größten Schuhfabrik des Arbeiter-und-Bauern-Staates, stolz als Schuhmetropole bezeichnete.

Ich machte mich auf den Weg zum Rathaus, erfuhr dort, dass für den nächsten Tag, den 3. Mai, immerhin eine Gedenkveranstaltung für den Dichter geplant sei. Auf meine Frage, warum die Feierlichkeiten denn nicht am eigentlichen Geburtstag stattfänden, belehrte mich der Sekretär des Bürgermeisters: „Die Kreisleitung ist der Ansicht, man kann es der Arbeiterschaft von Weißenfels unmöglich zumuten, unmittelbar nach dem 1. Mai gleich eine Feier für einen so umstrittenen und noch dazu adeligen Schriftsteller anzusetzen.“


Ein christlicher Reaktionär?


Nach 1945 war in der DDR keine einzige Novalis-Ausgabe mehr erschienen. Ich erkundigte mich damals in Weißenfelser, Weimarer und Leipziger Buchhandlungen und Antiquariaten und erhielt überall die gleiche Auskunft: „Das gibt es bei uns nicht.“ Es sollte noch bis Mitte der Achtzigerjahre dauern, bevor der Ost-Berliner Aufbau Verlag die erste Novalis-Gesamtausgabe der DDR publizierte.
Im damaligen Thälmannpark (dem heutigen Stadtpark), unmittelbar neben einer breiten Durchgangsstraße, fand ich zu dem Grab des Dichters. Der Lärm ratternder Lastwagen und Motorräder auf dem brüchigen Beton, in dem tiefe Schlaglöcher klafften, war kaum zu ertragen. Drei städtische Organisatoren be­rieten, in welcher Reihenfolge und zu welcher Uhrzeit die Kranzniederlegungen am nächsten Tag zu erfolgen hatten. Was er von Friedrich von Hardenberg halte, sprach ich den offenbar tonangebenden der grau melierten Stadtherren an. Ob er dessen Werke kenne? „Wenn Sie mich so direkt fragen“, tönte es in krassestem Sächsisch, „rein gar nichts halte ich von dem. Im sozialistischen Lexikon steht: ‚Christlicher Reaktionär‘. Stimmt so – mit Sicherheit!“


Alles habe ich schön gemacht


Die Männer verschwanden, da tauchte eine ältere fröh­liche Putzfrau an Novalis’ Grabmal auf. Während sie eine Steinbank am Rand des Denkmals reinigte, erzählte sie mir mit starkem polnischem Akzent: „In siebenundzwanzig Jahren, die ich hier lebe, habe ich noch nie hier geputzt! Warum jetzt? Ich weiß es nicht. Und bis letzte Woche waren alle Buch­staben auf dem Grabstein noch ganz schwarz. Alles schmutzig, sehr vernachlässigt. Nichts hat man entziffern können, so wie jetzt. Alles habe ich schön gemacht. Auf einmal hat alles ganz sauber sein müssen…“

Peter Stephan Jungk : Bild: Archiv

Am Nachmittag des 3. Mai versammelten sich in Zimmer 28 des Rathauses von Weißenfels unter einem Farbfoto des Staatsratsvorsitzenden Walter Ul­bricht Ehrengäste aus Stadt und Land. Gemeinsam schritt man zur Grabstätte, wo bereits Schulmädchen in weißen Blusen Spalier standen und darauf warteten, Kränze niederzulegen. Es nieselte. Der Vorsitzende des Rates des Kreises umriss die Lebensgeschichte des Dichters, wobei er insbesondere auf dessen Arbeit als Assessor bei der kursäch­sischen Salinenbergwerksverwaltung hinwies – Novalis hatte in der Tat, wie rund ein Jahrhundert später Franz Kafka, einen zeitraubenden Brotberuf, dem er mit äußerstem Ernst und Verantwortungsgefühl nachging. „Er arbeitete an der Mitentdeckung der Braunkohle in unserer Gegend, er rationalisierte die Salinenbetriebe“, betonte der Lokalpolitiker, bevor er urplötzlich zu Lenin überleitete: „Jedes Volk, so Lenin, ist verpflichtet, das kulturelle Erbe der Nation in sich aufzunehmen. In diesem Sinne zählen wir auch das Werk Hardenbergs zu unserem Erbe. Im Übrigen sind ja unsere zeitgenössischen Dichter von ähnlicher Schöpfungskraft und vergleichbarem Ideenreichtum durchdrungen! Sie verstehen es in überzeugender Weise, die Gedankenwelt unserer Arbeiterklasse wiederzugeben!“

Während der anschließenden Einweihung eines Gedenkpavillons im Garten des ehemaligen Novalis-Wohnhauses (1972 hatte der Rat der Stadt hier seinen Sitz – aus allen Fenstern wehten die Staatsfahnen) fiel mir ein junges Paar auf, das sich, rein äußerlich, von der grauen Menge der offiziell Geladenen wohltuend unterschied. Ich hielt die beiden für im letzten Moment doch noch aus dem westlichen Ausland angereiste Schwärmer und versuchte, während ein Streichquartett Schubert spielte, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Die beiden Buntgekleideten, die eher englischen Hippies als ordentlichen DDR-Bürgern glichen, bekannten sich zu ihrer Ver­ehrung für Novalis und sein dichterisches Werk, teilten mir jedoch lächelnd mit, Einwohner von Weißenfels zu sein. H. war wenige Jahre zuvor Staatsmeisterin im Wasserskifahren geworden, hatte die sportliche Laufbahn aber verlassen, um sich ganz der Malerei zu widmen. Ihr Mann D., Maler und Grafiker, arbeitete gerade an einem großflächigen Fresko für die Außenmauer der Schuhfabrik.


Novalis-Informationen für die Stasi


Zwischen uns dreien entspann sich in der Folge eine Freundschaft, für die wir Novalis dankten – er hatte uns zusammengeführt. Eine Verbindung, die den Behörden naturgemäß auffallen musste: Nach dem Zusammenbruch der DDR konnten wir in den Stasi-Akten Berichte nachlesen, die der vermeintlich beste Freund des Ehepaares unter seinem IM-Decknamen über Jahrzehnte hinweg an den Staatssicherheitsdienst geliefert hatte und die meine Nähe zu Novalis ebenso akribisch nacherzählten wie nahezu jede meiner späteren Kontaktaufnahmen mit den beiden Künstlern. Wie gefährlich mein Interesse für Friedrich von Hardenberg der DDR vorgekommen sein muss, belegt folgende Warnung: „Bei der Beauftragung aller IM/GMS (Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit) ist auf folgendes Problem zu achten. Am 25. März 1976 findet der 175. Todestag von Novalis statt. Durch die staatlichen Organe wird keine Gedenkfeier durch­geführt. Es muss damit gerechnet werden, dass der Jungk zu diesem Zeitpunkt zum Ehepaar W. einreist.“
An jenem 3. Mai 1972 begab ich mich spätnachts nochmals allein zur Grabstätte, ausgerüstet mit einer antiquarischen Ausgabe der Fragmentesammlung von Novalis unter dem Arm und mit einer kleinen Taschenlampe, die ich immer bei mir trug. Ich hielt hier gleichsam Wache, eine gute Stunde lang. Blätterte in dem Buch, hielt immer wieder inne, in diesen „Bruchstücken des fortlaufenden Selbstgesprächs in mir“, wie der Dichter seine Gedankenblitze, Aphorismen und Aperçus nannte, las mir einige der Fragmente laut vor, wie dieses: „Wir träumen von Reisen durch das Weltall – ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht – nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten – die Vergangenheit und Zukunft.“

Lautes Klirren von Metall auf Beton riss mich aus der Besinnlichkeit. Ich traute meinen Augen nicht. Zwei schwere Kettenpanzer ratterten kurz vor Mitternacht durch das Stadtzen­trum. In Weißenfels waren sowohl eine sowjetische Raketenbrigade als auch eine größere Panzerdivision der UdSSR stationiert.


Ernst Bloch gefiel das


Drei Monate später saß ich im Tiroler Bergdorf Alpbach Ernst Bloch gegenüber, den ich dank meines Elternhauses seit der Kindheit recht gut kannte. Der Siebenundachtzigjährige, die erloschene Pfeife in der Faust, schien geradezu begierig, mit mir, der zu diesem Zeitpunkt noch keines seiner Werke gelesen hatte, ins Gespräch zu kommen. Ich erzählte von meiner Reise nach Weißenfels. Bloch, der in den Fünfzigerjahren an der Universität Leipzig Poetik- und Philosophie-Vorlesungen gehalten hatte, bevor er beim SED-Regime in Ungnade gefallen war, reagierte wie entbrannt auf meine Novalis-Begeisterung, begann aus den „Hymnen an die Nacht“ und den „Lehrlingen zu Sais“ auswendig vorzutragen, minutenlang. Er habe sich viele Jahre hindurch mit dem Werk des Früh­romantikers auseinandergesetzt, eine Leidenschaft, die niemals verebbt sei.
„Hättest du nicht Lust“, fragte er mich, „die deutsche Romantik, Novalis, Schlegel, Tieck, Brentano, E. T. A. Hoffmann neu zu interpretieren? Vor allem das Bild Hardenbergs zurechtzurücken: Fort mit dem süßlichen Märchen von seinem Nachsterbenwollen seiner fünfzehnjährigen Geliebten. Den kräftigen, arbeit­samen, schönen Menschen schildern, der nur das Pech hatte, sehr jung krank zu werden; er hatte sich ja gerade neu verlobt!“ Ich hätte große Lust, die Romantik neu zu interpretieren, brachte ich stockend hervor, wenn es auch womöglich noch ein wenig dauern werde, bevor ich mich der Aufgabe gewachsen fühlte. „Im Gegenteil“, insistierte Ernst Bloch, „je früher du beginnst, desto reiner, leben­diger wird dein Werk ausfallen!“

Peter Stephan Jungk, geboren 1952, ist Schriftsteller. Zuletzt erschien „Marktgeflüster – Eine verborgene Heimat in Paris“ (Verlag S. Fischer).